Copyright: hier+jetzt Verlag. Der folgende Essay entstand Anfang 2019 aufgrund einer Einladung, für ein Buch über Freiheit ein Kapitel zum Thema “Freiheit und Digitalisierung” beizusteuern (->pdf-Version). Die Wiedergabe des Texts hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Exakte Referenz: Jobin, A. 2019. “Diagnose: Ambivalenz. Freiheit Im Digitalen Zeitalter.” Pp. 109–119 in Freiheit, herausgegeben von M. L. Marti und J.-D. Strub. Baden: hier + jetzt.
Diagnose: Ambivalenz. Freiheit im digitalen Zeitalter
Im Frühjahr 1999 strahlte die BBC ein Interview mit David Bowie aus, in dem sich der Sänger unter anderem zum Thema Internet äusserte: «I don’t think we’ve even seen the top of the ice berg, I think the potential what the internet is going to do to society, both good and bad, is unimaginable. I think we’re actually on the cusp of something exhilarating and terrifying.»1 Bowie hat mit diesen Worten unwissentlich eine zwanzig Jahre später stattfindende Debatte vorweggenommen und beantwortet.
Gut oder schlecht? Frei oder unfrei?
Tatsächlich finden auch heute noch viele Diskussionen zum Thema in binären Denkmustern statt: Sind neue Technologien gut oder schlecht? Bringt die Digitalisierung mehr Freiheiten oder schränkt sie uns ein? Eine Auslegeordnung fördert jeweils zahlreiche Beispiele für beide Seiten zutage. Einerseits können wir auf abrufbereite, noch nie dagewesene Mengen von Informationen zugreifen. Andererseits wissen wir immer weniger auswendig und überschätzen zudem unser Wissen. Einerseits sind viele Arbeitende vor allem des tertiären Sektors mobiler und flexibler. Andererseits verwischt sich die Grenze zwischen Arbeit und Beruf immer mehr, was zusätzlichen Druck schaffen kann. Das Beispiel-Pingpong könnte so unendlich lange fortgesetzt werden. Wirklich produktiv erscheint mir dies allerdings nicht. Viel spannender und wichtiger, als einer Antwort in schwarz oder weiss nachzugehen, sind die Fragen, unter welchen Umständen die Digitalisierung Freiheit fördert, und von welcher Art Freiheit die Rede ist. Denn – wie das BBC-Publikum schon vor zwei Jahrzehnten erfahren konnte – Internet bringt Gutes und Schlechtes, Erfreuliches und Erschreckendes.
Der Journalist schien damals mit Bowies Aussage überfordert. Es sei doch nur ein Instrument, «it’s just a tool though», entgegnete er. Eine Auffassung, die ich selbst auch schon oft gehört habe, am prominentesten in Form der Messeranalogie an hippen Technologiekonferenzen: Ein Messer sei neutral, es komme bloss darauf an, ob es als Küchenutensil oder als Mordwaffe Continue reading